Josip Zanki
Zeichnung, Installation, Autor
Lebt und arbeitet in Zagreb und Zadar.
Aufgewachsen im Dorf Privlaka, nordwestlich von Zadar, in einer Familie von Bauern und Fischern. 1994 graduierte er an der Akademie der bildenden Künste Zagreb bei Prof. Miroslav Sutej mit der Abschlussarbeit „Mystizismus und künstlerische Praxis von Joseph Beuys“. Seit 1986 arbeitet er an experimentellen Installationen und Filmen, an Performances und an der Recherche über Grafikmedien. Seit 2007 ist er Präsident der kroatischen Künstlervereinigung. Seit 2011 ist er Mitglied des Europäischen Kulturparlaments. Er unterrichtet an der Universität Zadar.
Insel als Schicksal
Josip Zanki
Die Landschaft der Kindheit birgt die Tradition in sich, einen Schatz, den der Künstler ähnlich wie der Ethnologe zusammensucht, versammelt und dauerhaft abspeichert als dasjenige, was, um mit Wittgenstein zu sprechen, das letzte Rätsel der Philosophie darstellt, und das ist die Sprache. Auf diese Weise werden die Matrizen unseres Daseins gespeichert: dessen, was wir waren und desjenigen, was wir möglicherweise sein werden. Denn wer wir uns gut an die Welt um uns herum besinnen, sehen wir, dass sie sich immer mehr vom Ort unserer Erinnerung unterscheidet.
Wir leben in einer Zeit, in welcher die Vorstädte aller Städte einander gleich werden. Überall werden die Sendefolgen ähnlich gemachter Unterhaltungssendungen gesehen, in jeweils anderen Sprachen produziert; es werden identische Einkaufszentren besucht, in denen bunte Artikel eingekauft und süßlich, entspannend schmeckende Getränke getrunken werden.
Die einzige, sich von dieser Matrize unterscheidende Welt ist die Welt unserer eigenen Kindheit. Für mich persönlich ist die Begegnung mit der Landschaft der Umgebung von Zadar eine Begegnung mit mir selbst. Wenngleich Straßen und Plätze wechseln, bleiben die Bilder von Hauptsymbolen der jeweiligen Städte jedoch manchmal unverändert. So erkennen wir Zadar auch weiterhin an der Stiege vor der Stadtloge wieder, am merkwürdigen Fries am Landtor und an der unendlichen Reihe von Schleppnetzfängern, die entlang der oberen Riva landen. Um kleinere Orte mit Fischern und Bauern ist es wie auch um die archetypische Natur ganz anders bestellt. Die Natur bleibt im unwiederbringlichen Abgrund der Zeit gefangen. Eichenbaumkronen überflügeln Buchten mit scharfen Felsenriffen, Buchenwälder überdecken Schluchten und Felsenklippen, Meeresfluten mäandrieren endlose Ufern. Die Dörfer verwandeln sich in verlassene Baugerüste, an deren Wänden sich grüne Efeus verzweigen; oder sie verwandeln sich in formlose Appartmentreihen, die an poliertere Spielarten der Slums von Rio oder an Armenviertel von Delhi erinnern.
Die Landschaft um Zadar herum befindet sich in der Zwickmühle zwischen dem Velebit-Gebirge im Hinterland und der Küstengegend, die durch mehrere Inseln umgrenzt ist, und die Mehrheit der Orte ist der Stadt Zadar zugewandt. Zwischen zwei Landschaften reihen sich Ebenen, Flüße und zahme Hügel der flachen Gegend von Ravni kotari. Von ihren Hängen ragen schlanke Pyramidenpappeln empor. Alle Siedlungen trotzen von ihrer Rückseite her dem Bora, dem kalten Wind, der den Verstand schärft und die Hände vereist, wenn sie im Winter aus dem tobenden Meer die Netzee herausziehen. Das Gebirge bringt den Bora, den Wind des Verstandes, während das Meer und die Inseln den Jugo bringen, den Südwind des Irrationalen, der Leidenschaft und der Nostalgie.
Der Mediterraner ist ein Wesen, das im offenen Raum lebt. Seine Daseinsschichten sind auch in Städten mit offenen Plätzen und Foren entstanden, sowie unter den Dielen, wo man Schutz vor Sonnenstrahlen fand. Seine Verbindung mit dem Raum ist selbstverständlich. Das Klima ermöglicht ihm einen viel längeren Aufenthalt im Freien, als es sich ein im düsteren Norden, oder in einer Flachlandgegend Mitteleuropas lebender Europäer leisten kann. Das Sonnenlicht, an welches der mediterrane Mensch gebunden ist, ist direkt, blendend, mit klaren Konturen, vom frühen Morgen bis in den Tag hinein unveränderlich. Im Unterschied zu dieser Sonne ist die Sonne im Norden vorübergehend, fluid und veränderlich – genauso wie die Wolken, die infolge des Golfstroms am aufgewirbelten Himmel einander rasch ablösen.
Ein eigenartiges Symbol der reinen mediterranen Landschaft ist die Insel namens Ugljan. Gerade in ihr spiegelt sich die ganze Vielfalt der adriatischen Inseln wider: vom Eichenwald Tramontana auf Cres bis hin zu orientalischen Rauchfängen auf Lastovo. Nach Preko auf Ugljan begann ich noch in meiner frühen Kindheit zu pilgern. Damals war ich noch ein Bestandteil der mythischen Bauernwelt, sodass meine Hinfahrten mit der Sandlieferung im Auftrag der Abnehmer auf der Insel mittels der Sandschöpferschiffe im Zusammenhang standen. Während sich in der Nähe des Schiffes sonnenbraune Mädchen aus dem Norden versammelten, habe ich am Unterdeck des Schiffes wie ein verwunschenes Wesen meine Sisyphusarbeit verrichtet: aus dem Schiffsinneren habe ich mit einer besonderen Schaufel Meersandhäuflein zum mittleren Schiffsteil hinaufgeschoben, wo der Sand von einem riesigen Metallschlung Richtung brennendes Sonnenlicht der Mittagszeit aufgeladen wurde.
Zu einem anderen Zeitpunkt verliebte ich mich während des Hausbesuches bei meinem Freund Robert Bacalja in eine kleine Insel, die sich inmitten der Bucht Jaz befindet. Die kleine Insel ist vom dichtem Kiefernwald bewachsen; einer kandischen Festung ähnlich erhebt sich stolz auf ihr das Kloster des Dritten Franziskanerordens. Dieses ganze Inselbild habe ich von vornherein mit meiner beliebten, auf Bocklin zurückgehenden romantischen Invokation der Fahrt des Odysseus zur Insel der Toten verbunden. Von Roberts Terrasse aus betrachtet, beschwor die Insel, der inkarnierten Schattenwelt ähnlich, das Abenteur des Orpheus herauf.
Als ich mich während meiner langen Spaziergänge dieser kleinen, im Volksmund „Školjić“ genannten Insel am Friedhof der Patrizierfamilien von Zadar des 19. Jahrhunderts aufzuhalten pflegte, war mir meine frühere Obsession vollkommen klar. Sie bedeutete nicht notwendigerweise, dass die mediterrane Landschaft an einen archetypischen Friedhof erinnert. Die Bilder der kleinen Insel gegenüber Preko verwandelten sich im Einklang mit dem Grundsatz des ursprünglichen Simulacrums einfach in Bilder der ewigen Ruhestätte. Physische Stätten konnten sich tatsächlich in ihre Widerspiegelungen und Anspielungen nur mittels des assoziativen Verstandes verwandeln, dessen freilich, der die Bedeutungen liest. Er ist derjenige, welcher sagt: Ich habe dies getan! – genauso wie es der namenlose Läufer aus New York in Jean Beaudrillards allegorischem Vergleich zwischen dem griechischen Marathon und dem jährlichen Wettlauf von Manhattan sagt.
Nachdem ich die hügelähnliche Halbinsel Zelena punta in Kukljica, den Berggipfel „Sveti Mihovil“, das Sommerlustschloß Del Ponte in Lukoran und ein beinahe archaisches griechisches Feld inmitten der Insel entdeckt hatte, habe ich begriffen, in welchem Maß die Landschaft von Ugljan gleichzeitig einfach und einzigartig ist. Terrassenartig steinige Olivenfelder, die mit großen Steinmauern umzäunt sind, werden von schlanken Zypressen abgelöst, die den Süden und das Konavle-Feld bei Dubrovnik in Erinnerung rufen. Die volkstümliche Architektur wird durch Sommerlustschlösser mit gepflegten Gärten und Weihern ersetzt, und entlang des Meeresufers stehen immer noch Fischereilager und Olivenmühlen. Die Welt eines möglichen „prekorianischen“ Simulacrums und der real existierenden Stadt Preko stellt einen Teil unserer in Vergessenheit geratenen Geschichte und die Kraft der Indentität dar.
Und eben diese Identität ist wie ein mittelalterlicher Palimpsest, auf gelbem Pergament geschrieben. Ältere Schichten verflechten sich mit den neueren und bilden dadurch den Text, den wir in mehreren unterschiedlichen Bedeutungen lesen können. Die Mythen der Kindheit sind nämlich allgemein verständlich, wenn man ins Code von Zeit und Raum einsteigt, genauso wie die Gestalten des Films „Amacord“ zu einem Teil unseres Erwachsenwerdens geworden sind, ungeachtet dessen, dass einige von uns die Stadt Rimini nie gesehen haben und sie wohl niemals sehen werden.
Die Bilder der Kindheit, der Insellandschaft und der uralten, in rätselhafter Ortssprache geschriebenen Bräuche lösen einander in mir noch einmal ab. Wort und Bild ergeben ein einziges Dasein, genauso wie die Nachtzeit und die Lichtzeit dasjenige hervorbringen, was wir den Tag des Lebens nennen.
Wenn wir den Titel eines längst verfaßten Buches von Robert Bacalja Prid ultimu augusta in die kroatische Standardsprache übersetzen, stehen wir auf einmal vor dem Ende des Monats August. Diejenigen, die im östlichen Mittelmeerraum groß geworden sind, wissen sehr wohl, was dies bedeutet. Nach Mitte August und dem Feiertag Mariä Himmelfahrt setzen die ersten Sommergewitter ein; nach einer längeren Dürreperiode regnet es immer öfter. Der Regen verwandelt heiße Sommernächte in neblige Herbstmorgen. Augustende ist Sommerschluß und Beginn des lunaren Jahresteils, bis hin zum maestätischen Sonnensieg zur Weihnachtszeit.
Somit landeten wir vor mehreren Bildern, Gedanken, Erlebnissen und Bedeutungen. Eben wie in der Geschichte vom ungeschickten Zauberer, der in manchen bleiernen und keuschen Jahren den Ort Preko aufsuchte und seinen Hut abnahm. Er war voller verschiedener Schmuckgegenstände. Karten, Hasen und kindliche Verwunderung. Jene Verwunderung ist es, mit welcher wir die Welt immerdar anschauen möchten.
Fotos der Arbeit: